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Allein gestorben

Der Mann wollte gar nicht mich sprechen, er hatte die Nummer meines Chefs gewählt, eines durch Funk und Fernsehen und ansprechende Predigten bekannten Priesters. Er rufe in Zusammenhang mit einem Todesfall an, er mache sich seit Tagen nur noch Schuldvorwürfe und müsse unbedingt mit einem Seelsorger reden.

 

„Ich bin Theologe, jedoch nicht als Seelsorger tätig. Wenn Sie wollen, höre ich Ihnen erst einmal zu.“ Der Mann zögerte eine ganze Weile, ehe er dann von seiner Frau erzählte, die vor etlichen Monaten sehr schwer erkrankt war. Er hatte sie unter Aufbietung aller Kräfte zuhause gepflegt, war aber selber darüber krank geworden. Widerwillig hatte er dem Rat der Ärzte und seiner in der Ferne lebenden Tochter nachgegeben und der Verlegung der Kranken in ein Pflegeheim zugestimmt.

 

Von diesem Tag an hatte der Mann seine Gattin jeden Tag besucht, stand nach dem Frühstück auf der Matte und ist erst wieder gegangen, als sie abends eingeschlafen war. Ihr Zustand wurde trotz solider ärztlicher Betreuung und aufmerksamer, liebevoller Pflege nicht besser, ja zusehends schlechter. Als er vor wenigen Tagen wegen eines Behördengangs für zwei Stunden nicht am Bett sitzen konnte, war seine Frau verstorben. Darüber kam er nun nicht weg; er fühlte sich schuldig an ihrem plötzlichen Tod, jedenfalls dafür, in der Sterbestunde nicht bei ihr gewesen zu sein. Das quälte ihn seit dieser Stunde und nun auch über die Beerdigung hinaus. Sein ganzes Denken und Sinnen kenne nur diesen einen Gedanken: „Warum bin ich bloß nicht bei ihr gewesen in ihrer schwersten Stunde? Warum habe ich ihr das angetan?“

 

Ich habe verschiedene Fragen gestellt, um die Gedankenrichtung des Trauernden etwas zu ändern; die knappen Antworten enthielten immer das „ja, aber“.

 

Schließlich kam mir die Erinnerung an ein Gespräch über das Sterben von Kindern mit dem Leiter eines Kinderhospizes. Er hatte im Lauf der Jahre festgestellt, dass viele Kinder in ihrem Sterbeprozess sich Sorgen um ihre Eltern machen und den letzten Schritt nur nicht gehen können, weil sie die verstörten Eltern, die oft seit Wochen Tag und Nacht am Bett gewacht hatten, nicht allein zurücklassen wollten.

 

So hatte sich im Kinderhospiz nach und nach ein Umgang mit dieser doppelten Trauer und Sorge herausgebildet. Wann immer ein Kind deutlich erkennbar in der letalen Phase war, diese sich aber über Gebühr hinzog, lud jemand vom Hospizteam die Eltern, manchmal auch mit Geschwistern, zu einem Spaziergang um einen nahegelegenen See ein. Der Uferweg war so, dass man knapp zwei Stunden dafür brauchte. In vielen, ja fast in allen Fällen fanden die Spaziergänger zurück im Hospiz ein friedlich entschlafenes Kind vor. Auf ihre Selbstvorwürfe und gelegentlich auch auf die Vorwürfe an die Hospizmitarbeiter, erklärten diese den Hinterbliebenen jeweils den Zusammenhang zwischen dem Gang um den See und dem letzten Schritt ihres Kindes. Fast immer, sagte mir der Hospizleiter, wären nach einer Weile die trauernden Angehörigen dankbar gewesen – für den Spaziergang, bei dem quasi nur über das verstorbene Kind gesprochen wurde, und für die Erklärung.

 

Diese Erfahrung habe ich nach einer kleinen Stille im Telefonat dem Witwer erzählt und mit der Überlegung geendet, dass es beim Sterben seiner Frau doch auch so gewesen sein könnte, dass sie vor lauter Sorge um ihn nicht loslassen konnte. Er hatte wortlos zugehört, nichts nachgefragt, sich bedankt und verabschiedet.

 

Zwei Tage später klingelte das Telefon, der Witwer meldete sich mit Namen und sagte dann nur: „Danke für das Telefongespräch vorgestern. Ich glaube, Sie hatten mit Ihrer Vermutung Recht. Vielen Dank. Auf Wiederhören.“

 

 

 

Im Gespräch mit Sterbebegleiterinnen, Jahre nach dieser Begebenheit, lernte ich, dass nicht wenige Sterbende in ihrer Todesstunde allein sein wollen. Manche können ihrem Wunsch verbal Ausdruck verleihen, andere wenden sich einfach von den Menschen im Zimmer ab, drehen sich auf die Seite oder schließen die Augen, verweigern jedes Wort, jede Berührung, reagieren auf nichts. Manche Angehörige verstört, ja kränkt das, aber dafür gibt es wohl keinen Grund. Letztlich stirbt jeder Mensch für sich allein und tut in dieser Situation gewiss das für ihn Richtige.

 

B.R.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    MM (Montag, 27 März 2023 21:23)

    Meiner Mutter war es als Krankenschwester immer wichtig, Sterbende bis zum Ende zu begleiten und ihnen die Hand zu halten. Für mich war es auch selbstverständlich, in den letzten Tagen bei ihr im Oflegeheim zu sein.
    Am letzten Tag sagte mir eine Freundin meiner Mutter, sie hätte ihr gesagt, man müsse sie zum Sterben allein lassen. Ich war sehr überrascht, aber der Freundin dankbar für diese Information. Abends bin ich dann nicht bei meiner Mutter geblieben, sondern habe mich verabschiedet. Sie hat den "Freiraum" genutzt und ist kurz nach Schichtwechsel in die andere Welt gegangen.

  • #2

    Barbara (Mittwoch, 29 März 2023 10:44)

    Ach, was für schöne Geschichten: für Andere dagewesen sein und sagen können, wessen man bedarf! Und wie gut, dass Du sie bis dahin begleiten konntest...